Der Beginn des »russischen Angriffskrieges auf die Ukraine« (den man auch einen Stellvertreterkrieg nennen kann, in dem die USA ihre imperialen Expansionsinteressen bis zum letzten Ukrainer verteidigen) markiert für Olaf Scholz eine »Zeitenwende«.

Ein großes Wort. Es stellt diesen Krieg auf eine Stufe mit einem Ereignis, das vor noch gar nicht langer Zeit als die Zeitenwende schlechthin galt, nämlich mit dem Selbstopfer Gottes in Gestalt des gekreuzigten Erlösers und dessen Auferstehung.

Von der politischen Klasse unseres Landes erwartet niemand ein Gespür dafür, wie unangemessen eine solche Wortwahl in politischen Zusammenhängen ist. Sie wäre es sogar in Bezug auf einen Mann wie Gandhi; geradezu blasphemisch aber ist sie mit Blick auf Washingtons Mann in Kiew. Den Präsidenten des korruptesten europäischen Staatswesens, der es auf dubiose Weise zum Multimillionär gebracht hat, als eine Art neuen Jesus zu beweihräuchern, der sich für unsere Sünden opfert (zum Beispiel für die jahrzehntelang praktizierte Sünde einer konstruktiven Friedenspolitik): Das ist der Subtext des Wortes »Zeitenwende« und an Geschmacklosigkeit kaum zu übertreffen.

Freilich ist Selenskyi gerade wegen seiner Fragwürdigkeit der passende Handlanger für die Sorte Zeitenwende, die wirklich im Gange ist und uns (für eher technizistisch veranlagte Gemüter) auch als »Great Reset« verkauft wird. Nichts soll danach mehr sein, wie es vorher war. Vorher: Das war das dunkle Zeitalter. Über siebzig Jahre Frieden in Europa – ein Irrtum, bestenfalls eine Petitesse, auf die es nicht ankommt, wenn es gilt, eine in jeder Hinsicht strahlende Zukunft einzuläuten. Meinungsfreiheit – eine Waffe der »Putinversteher« und »Coronaleugner«: also weg damit! Eine florierende Volkswirtschaft – stößt CO2 aus, ist daher schädlich und darf im Kampf gegen X (Putin, Klimawandel, Corona …) getrost ruiniert werden.

Nachher: Das ist die Zeit, da wir nichts besitzen und glücklich darüber sein werden; da uns das Bankkonto gesperrt oder gekündigt wird, wenn wir uns den uns zugedachten Beglückungen widersetzen, zu denen gehört, unser Leben, unsere Gesundheit, unseren bescheidenen Wohlstand in den Dienst des Kampfes gegen X zu stellen. Mit anderen Worten: das Goldene Zeitalter. Ja, es gibt wirklich Menschen, die das so empfinden! Die glücklich sind, wenn sie sich und die Zukunft ihrer Kinder auf den Altären von im Jahresturnus wechselnden Götzen opfern dürfen (und noch mehr, wenn sie nach Aztekenart andere Menschen gegen deren Willen auf besagte Altäre schleifen dürfen).

Für Christen ist es Blasphemie, sich von der Verfolgung utopischer politischer Ziele die Erlösung zu versprechen. Der christliche Glaube lebt aber nur noch in einer Minderheit, zu der die meisten Bischöfe schon nicht mehr gehören. Das Bedürfnis nach Transzendenz und Sinn aber, das dieser Glaube einmal befriedigte, hat sich mit seinem Verschwinden nicht erledigt. Die Sehnsucht nach Gott macht Menschen, die glauben wollen, aber nicht können, zu dankbaren Opfern der Demagogie skrupelloser Machthaber, die ihnen mit apokalyptischem Pathos eine Erlösung verheißende utopistische Fata Morgana vorspiegeln.

Die Methode ist immer dieselbe, ob nun Hitler vom »Tausendjährigen Reich« oder Scholz von der »Zeitenwende« spricht. Und stets erfordert die Verwirklichung des jeweiligen Paradieses die Vernichtung irgendwelcher »Feinde«, die – rein zufällig – zugleich die Feinde besagter Machthaber sind.